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Erster Prozess um Corona-Ausbruch in Ischgl: Richterin lässt keine Gutachten zu

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Der Wintersportort Ischgl in Tirol galt als der Corona-Hotspot in Österreich.
Der Wintersportort Ischgl in Tirol galt als der Corona-Hotspot in Österreich. © Muehlanger/imago

Im österreichischen Skiort Ischgl haben sich Tausende mit Corona infiziert. Eine Witwe hat Österreich verklagt. Nun hat der erste Ischgl-Prozess begonnen.

Update vom 17. September, 15:50 Uhr: Das Verfahren wird geschlossen: Bei dem ersten Prozess um die tödlichen Corona-Ansteckungen im Tiroler Skiort Ischgl haben die Angehörigen eines toten Patienten vorläufig einen Rückschlag erlitten. Die Richterin im Wiener Landgericht ließ am Freitag keine weiteren wissenschaftlichen Gutachten und Anträge auf Vorlage von Behördenprotokollen zu, die der Klägeranwalt gefordert hatte. Die Witwe und der Sohn eines an Corona gestorbenen Österreichers, der sich bei der chaotischen Abreise aus Ischgl angesteckt haben soll, fordern rund 100 000 Euro Schadenersatz vom Staat.

Da alle relevanten Informationen über das Handeln der Behörden bekannt seien, werde das Verfahren geschlossen, sagte die Richterin und kündigte ein schriftliches Urteil an. Dem Verfahren folgen in den Tagen darauf weitere Klagen. Generell werfen die Kläger der Republik vor, zu spät vor dem auch in Ischgl grassierenden Coronavirus gewarnt und zu zögerlich reagiert zu haben.

Update vom 17. September, 11.33 Uhr: Beim Ischgl-Prozess um ein Covid-19-Opfer hat der österreichische Staat eine einvernehmliche Lösung und Vergleichsverhandlungen abgelehnt. Die Republik vertritt die Auffassung, dass Regierung und Behörden mit dem damaligem Wissen über das Virus richtig handelten und die Klage deshalb grundlos ist - dies wurde zum Auftakt des Verfahrens (siehe Erstmeldung) am Freitag deutlich.

Corona-Tod: Journalist starb nach Ischgl-Busfahrt - nun fordert Witwe 100.000 Euro

Erstmeldung vom 15. September: Wien - „Diese Gebiete werden ab sofort isoliert.“ Der schlanke Satz von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in einer Pressekonferenz zur Ausbreitung des Coronavirus am 13. März 2020 schlug ein. Viele Touristen in den Tiroler Skiorten Ischgl, Galtür oder St. Anton am Arlberg - diese Gebiete waren gemeint - hörten die Nachricht noch beim Skifahren und wollten durch sofortige Abreise einer möglichen Quarantäne entkommen. Unter chaotischen Bedingungen fuhren Infizierte heim und trugen so zur europaweiten Verbreitung des Virus bei. Ein österreichischer Journalist nahm den Bus zum Bahnhof. Es wurde wegen Staus eine gefährlich lange Fahrt. Kurz darauf ist er an Covid-19 gestorben.

Ischgl-Corona-Desaster: Witwe fordert 100.000 Euro Schadenersatz

Am 17. September beginnt mit der Klage der Witwe und ihres Sohnes auf 100.000 Euro Schadenersatz das erste von vielen Verfahren auch deutscher Kläger gegen die Republik Österreich. Die sogenannte Amtshaftungsklage sieht ein Versagen der Behörden, die zu spät vor dem Virus gewarnt und zu spät gehandelt hätten. Der österreichische Skiort Ischgl stand im Verdacht für Corona-Infektionen in ganz Europa* verantwortlich zu sein. Jetzt drohen Hunderte Deutsche mit einer Klage.

„Ich schätze, dass letztlich bis zu 3.000 Ansprüche an die Republik gestellt werden“, sagt Peter Kolba vom Verbraucherschutzverein (VSV) in Wien, der die Kläger betreut. Der VSV hat vor, Sammelklagen einzubringen. Am Freitag werde sich die Frage stellen, ob diese Zahl an Ansprüchen nicht besser in Vergleichsverhandlungen gelöst werden sollten.

Der VSV hat auch beantragt, den Kanzler, den Innenminister Karl Nehammer, den damaligen Gesundheitsminister Rudolf Anschober sowie Vizekanzler Werner Kogler als Zeugen zu laden. „Kurz ist ein zentraler Zeuge“, sagt Kolba. Er könne darüber aussagen, wie die Absprachen zwischen Land Tirol und dem Bund in Wien über die geplante Ausreise gelaufen seien. Aus Sicht des VSV ist Kurz mit seiner Pressekonferenz vorgeprescht, bevor die Vorbereitungen in Ischgl für eine geordnete Abreise abgeschlossen waren. „Mehr als 10.000 Menschen haben das Tal verlassen, aber nur in 2600 Fällen erfolgte ein Kontakt-Tracing mit Hilfe von Gäste-Ausreiseformularen“, so Kolba.

Ischgl - Ortschild
Tausende Corona-Fälle sollen ihren Ursprung im Wintersportort Ischgl (Österreich) haben. © Jakob Gruber/dpa

Tiroler Skiort Ischgl - Expertenkommission stellte kein generelles Versagen fest

Der Bericht einer unabhängigen Expertenkommission hält dazu fest: „Diese Ankündigung (Anm.: des Kanzlers) führte bei den Gästen und Mitarbeitern zu Panikreaktionen, die nach den Angaben der Auskunftspersonen, die bei der überstürzten Abreise gegenwärtig waren, von ihnen so noch nie erlebt worden sind.“ Die Chance, das gesamte Wochenende gestaffelt für die Abreise zu nutzen, sei nicht wahrgenommen worden. In Ischgl seien Fehler gemacht worden, aber es sei kein generelles Versagen festzustellen, hieß es in dem vor einem Jahr präsentierten Bericht. 

Die österreichische Finanzprokuratur, die die rechtlichen Interessen des Staates vor Gericht vertritt, hat stets betont, alles sei richtig gemacht worden. Bei der Debatte über Fehler der Behörden spielt auch der Hinweis eine Rolle, dass das Wissen über das Virus am Beginn der ersten europaweiten Welle lange nicht so gründlich war wie heute. Das lässt Kolba nicht gelten. „Unser stärkstes Argument ist, dass man eine Woche früher den Skibetrieb hätte schließen müssen“, sagt er mit Verweis auf damals erste Infektionsfälle unter Ischgl-Touristen Anfang März. 

Après-Ski in Ischgl unter Generalverdacht

Ischgls Partyszene, seine vielen Après-Skibars, das von Alkohol enthemmte Feiern - diese Bilder spiegeln nur einen Teil des Skiorts wider. Aber sie trugen dazu bei, dass Ischgl zeitweise als Synonym für ein Verdrängen von Corona-Gefahren galt. Der Ort und die Landesregierung haben die Konsequenzen daraus gezogen. Ein Feiern wie früher werde es in diesen Zeiten nicht mehr geben, hieß es mehrfach. In der kommenden Wintersaison sollen nach den Plänen von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger strenge Zugangsregeln speziell beim Après-Ski gelten.

Davon hat Dörte Sittig aus der Nähe von Köln wenig. Ihr Lebensgefährte starb nach einem Ischgl-Urlaub mit 52 Jahren an Corona. Vor ihrem eigenen Gerichtstermin will sie am Freitag den ersten Prozess mitverfolgen. Dem Kölner Express sagte sie einmal: „Die haben meinen Mann ins Messer laufen lassen.“ Der Betrieb im Ort sei von den Behörden nicht rechtzeitig geschlossen worden. Viele andere Gemeinden hätten dagegen reagiert.

Ohne den Corona-Hotspot Ischgl wäre Deutschland wohl deutlich problemloser* durch die Pandemie gekommen. Der Einfluss der Superspreader-Location auf die Infektionswelle in Deutschland haben Forschende im Juni 2020 untersucht.

In Österreich läuft das Impfen im September im Schnecken-Tempo. Die Corona-Fallzahlen steigen. Die Regierung hat die Ungeimpften im Visier - vor allem beim Après-Ski*.(dpa) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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